1927-1938 Eine Geschichte von der Treue
Denn es ist mit dem alten, schönen Haus in der Johannesgasse wie mit allen geliebten und unentbehrlichen Dingen in dieser Welt: ihr wirklicher Wert wird uns erst offenbar, wenn wir sie verloren haben. (U.S. Eine kleine Geschichte von der Treue)
AK Wien, Lehr- u. Erziehungsanstalt St. Ursula, Johannesgasse 8, 1010 Wien (Albumblatt aus dem Archiv der Schule)
Im Sommer 1927 trennen sich die Eltern, die Ehe wird geschieden. Die Zwillinge kehren mit ihrer Mutter nach Wien zurück, bleiben aber in gutem Kontakt mit dem Vater. Die Zeiten sind schwierig. Die erste Republik Österreich wird 1934 aufgelöst, 1938 erfolgt der ‚Anschluss‘ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich. Zunächst kann die Mutter, die jüdischer Herkunft ist, noch als Ärztin arbeiten. Die Schule wird ein wichtiger Zufluchtsort: zuerst die katholische Privatschule Sacré-Coeur am Rennweg, ab Herbst 1932 das Gymnasium in der Rahlgasse, das für seine humanistische Gesinnung und die besondere Unterstützung von Schülerinnen bekannt war.
Auf dem Foto links befindet sich Ilse Aichinger auf dem heutigen Johanna-Dohnal-Platz zwischen Gumpendorferstrasse und Rahlgasse, schräg gegenüber der damaligen Wohnung. Hinter ihr das Gymnasium Rahlgasse. (Nachlass Ilse Aichinger, DLA)
Ab Mai 1934 besucht Ilse allein die Schule der Ursulinen in der Johannesgasse. Im August 1938 ordnen die Behörden die Schließung der privaten Schulen an. Die letzte Schule, die sie noch aufnehmen kann, ist das Sperlgymnasium. Das wenige Monate vor Kriegsbeginn ausgestellte Maturazeugnis enthielt auch ein Hitlerbild und den Spruch: „Vergiß nie, dass du ein Deutscher bist!“, erzählt Aichinger. Sie habe es später verloren. (Interviews 127)
Handgeschriebener Eintrag in der Schulchronik der Ursulinen: 30. Aug. [1938]: Erlaß des Stadtschulrates an die Elternschaft der Schule mit der Aufforderung, die Kinder in anderen Schulen unterzubringen, da die Schule der Ursulinen gesperrt sei. (Im Zuge der Angleichung an das Altreich). An die Anstalt selbst kam kein diesbezüglicher Erlaß. Damit hat die Schule der Ursulinen und die Schulchronik vorläufig ein Ende. Fiat! – In Te Domine speravi – – – Chronistin: M. Lucia Večerka OSU. (Schularchiv der Ursulinen in Mauer; Transkription Nora Pärr)
Eine der ersten Publikationen Ilse Aichingers ist der Erinnerung an die Schule der Ursulinen gewidmet: “U.S. Eine kleine Geschichte von der Treue”. (Die Furche, 26.1.1946)
Noch schwerer hatten es die Professoren der Oberschulen, in die man die Kinder aus dem Ursulinenkloster nach der Sperrung der Schule verwies, denn sie stießen mit ihren Lehren unentwegt auf Kritik und Widerstand. Sie haben sich oft den Kopf zerbrochen, welche Macht denn da stärker sei als alle großen Worte, bis sie eines Tages bei der Schlußkonferenz erklärten: „Diese Mädchen sind durch den Geist des Klosters verdorben. Man wird sie niemals zu richtigen Deutschen machen können.“ Als wir das hörten, waren wir ungemein stolz darauf, durch „den Geist“ verdorben zu sein. (U.S. Eine kleine Geschichte von der Treue)